Deutschland zwischen „HURRA“ und „HÖLLE“ – Begegnung mit der ersten „Lost Generation“

Aus Anlass der hundertjährigen Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs beschäftigen sich aktuell zahlreiche Ausstellungen mit den Ursachen, dem Verlauf und den langfristigen Folgen dieses häufig als „Urkatastophe“ des 20. Jahrhunderts oder gar „Weltenbrand“ etikettierten Ereignisses. Eine der ersten modernen Dauerschauen zu diesem Thema im deutschen Sprachraum bietet eine Sonderabteilung des Bayerischen Armeemuseums in Ingolstadt an, die die vier 8. Klassen des Gymnasiums Wendelstein im Rahmen ihres thematischen Wandertags in Begleitung ihrer Klassleiter bzw. Geschichtslehrer näher erkundeten.

Die Ausstellung ist dabei ganz anders konzeptioniert als die jüngst von der Bundeskanzlerin im Deutschen Historischen Museum in Berlin eröffnete, die einen topograpisch orientierten Zugang wählt und 15 verschiedene Kriegsorte näher ausleuchtet.

Im Reduit Tilly, einem Teil der ehemaligen königlich bayerischen Landesfestung, folgen die Besucher zunächst einer augenscheinlich traditionellen Vitrinenpräsentation, die sich nach und nach jedoch aus der Zweidimensionalität löst und durch frei im Raum stehende Exponate und großformatige Rekonstruktionen an Plastizität und Anschaulichkeit gewinnt. Für die Schülerinnen und Schüler besonders eindrücklich war dabei sicherlich ein Teil eines realitätsgetreu nachgebauten Schützengrabens.

Die umfangreiche Museumssammlung umfasst eine Vielfalt von Erinnerungsstücken, die weit über Urgroßvaters Pickelhaube und den der Urgroßtante überstellten Gefallenenbrief hinausgehen: Fotos, Tagebücher, Uniformen, Waffen und internationales Propagandamaterial geben Einblicke in das Leben der Soldaten an der Front. Kinderspielzeug, Fahrräder, Briefkästen, Porzellan, Möbelstücke, Briefe und Feldpostkarten zeugen von der privaten Dimension des Krieges und dem Alltag der Zivilisten in der Heimat. Die Ausstellung bietet im Rahmen eines ereignis- und kulturgeschichtlichen Ansatzes einen facettenreichen und sich – parallel zur Gewalteskalation – steigernden Überblick über das Kriegsgeschehen, macht die Verbindung zwischen den Wahrnehmungsräumen Front, Etappe und Heimat deutlich und zeigt Schicksale, die sich räumlich und biographisch zwischen überbordendem Patriotismus und grenzenloser Zerstörung, zwischen Normalität und Katastrophe bewegen. 

Dabei steht – trotz militärgeschichtlicher Schwerpunktsetzungen – stets der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung, der dem modernen Krieg in schier endlos wiederkehrenden emotionalen Grenzsituationen als Täter und/oder Opfer ausgeliefert ist. 

Die Begeisterung für die zu Beginn verlockenden Möglichkeiten der neuen Kriegstechnologien wird sinnfällig kontrastiert mit der eskalierenden Brutalisierung des Kampfes und der Erfindung immer neuer Techniken des Tötens und Verletzens bspw. durch den Einsatz von Giftgas, Flammenwerfern und Fliegerbomben. Die Gegenstandsquellen und Bilder, in denen die Kriegsschrecken und -gräuel manifest werden, teilen den blutigen Ernst der Lage sowohl dem damaligen wie auch dem heutigen Betrachter ganz unmissverständlich mit und zerschlagen die Illusion eines sauberen und schnell zu gewinnenden Krieges. 

Die Ausstellung spiegelt den kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch, den der Erste Weltkrieg einleitete und macht Krieg als Phänomen der Vergangenheit verständlich, jedoch nicht ohne Anknüpfungspunkte für die Gegenwart und uns heute zeitlich näher liegende Kriege zu eröffnen.

Die Schülerinnen und Schüler haben in Ingolstadt einen wichtigen Teil eines vielstimmigen Programms kennengelernt, mit dem Bayern, Deutschland und Europa aktuell der „ersten großen Tragödie“ des 20. Jahrhunderts gedenken. Der Bewältigung derselben war letztlich auch die erste deutsche Demokratie in Weimar nicht gewachsen, mit der sich die Museumsbesucher aus Wendelstein gleich zu Beginn des nächsten Schuljahres im Geschichtsunterricht auseinandersetzen werden und deren Vorbelastungen und letztliches Scheitern ohne die beim Museumsbesuch gewonnenen tieferen Einsichten in den komplexen Bedingungsrahmen der „Ur-Katastrophe“ ungleich schwerer zu verstehen wären. 

 

Mirjam Müller für die Fachschaft Geschichte