Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?!

Die English Theatre Group des Gymnasium Wendelstein präsentiert mit „The Murder of Mary Jones“ ihr zweites Bühnenstück und begibt sich gemeinsam mit den Zuschauern auf Wahrheitssuche.

Die Jugendliche Mary Jones ist tot. Verteidigung und Anklage sind bemüht herauszufinden, was genau in jener verhängnisvollen Augustnacht am Strand einer englischen Kleinstadt geschah. Ist der Angeklagte Simon Clark wirklich schuldig? Welcher Ansicht sind die Gerichtsmedizinerin, der Kommissar, weitere Sachverständige sowie zahlreiche Zeugen des Geschehens? Und welche Rolle spielt bei all dem Jim Wilson, Marys (Ex-)Freund?

Durch geschickte und investigative Gerichtsverhörtechniken versuchen die Staatsanwältin (Jule Albrecht) und Simon Clarks Rechtsanwältin (Svenja Schraut) vor den Augen der Jury und des Publikums Licht ins Dunkel der mysteriösen Geschehnisse zu bringen. An einem Ort, an dem ausnahmslos alle Befragten per Eidesformel schwören, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, gestaltet sich dies jedoch schwieriger als erwartet…

Das Gerichtsdrama, das sich die English Theatre Group im zweiten Jahr ihres Bestehens vorgenommen hat, zieht den Zuschauer mit einem minimalistisch angelegten aber dennoch wirkungsvollen Bühnenbild optisch und darstellerisch schnell in seinen Bann. Ähnlich der über die Vorgänge bei Gericht und auf der Wendelsteiner Bühne wachenden Justitia soll der Betrachter durch nichts vom Wesentlichen, nämlich dem Fall, den vorgelegten Beweisen, den Zeugen und deren teils widersprüchlichen Aussagen abgelenkt werden. 

Am Ende der Verhandlung darf eine aus Teilen des Publikums rekrutierte Jury auf Grundlage des Gehörten und Gesehenen schließlich eigenaktiv in Sachen Wahrheitsfindung werden und – im Geiste der Zuschauerpartizipation – selbst das Urteil über Simon Clark sprechen.

Der Erfolg und die Überzeugungskraft des Stückes ist zu einem großen Teil den engagierten Jungdarstellerinnen und -darstellern zuzuschreiben, denen es trotz des nicht unerheblichen fremdsprachlichen Textvolumens gelingt, ihren Figuren eine ansprechende Vitalität und Plastizität zu verleihen, die bis in die kleineren Rollen hinein um ein treffendes Genre- und Lokalkolorit ergänzt wird. Aufgelockert und um eine zusätzliche Dimension jenseits des Gerichtssaals erweitert wird das seiner Grundkonzeption nach kammerspielartig angelegte Drama durch technisch und dramaturgisch geschickt angebahnte Videoeinblendungen, die dem Zuschauer verschiedene Facetten der Tatnacht in pointierten Flashbacks vor Augen führen. 

Vermittels dieser und anderer Techniken werden auf der Bühne also bei weitem nicht nur Text und Beweise umgewälzt und die Leistung der Unterstufenschüler/-innen und der beiden Regisseurinnen, Bianca Heckl und Doris Westley, ist umso höher einzuschätzen, da es ihnen neben den souverän gemeisterten fremdsprachlichen Hürden auch gelingt, jede einzelne Figur gekonnt zu zeichnen und die Charaktere mit viel gedanklicher Klarheit und Liebe zum Detail zum Leben zu erwecken. Das junge Ensemble zeigt bei all dem große Spielfreude und viel Talent in seinen jeweiligen Rollen und kann vor dem Urteil des Publikums sowohl in sprachlicher als auch in darstellerischer Hinsicht restlos gut bestehen.

Eine gültige Wahrheit kann am Ende der Aufführung somit definitiv etabliert werden: Die zurückliegenden Monate harter Proben-, Regie- und Bühnenarbeit haben sich auf jeden Fall gelohnt. Sowohl die Qualität des gezeigten Stücks als auch der lang anhaltende Applaus im Anschluss an beide Vorstellungen stellen dafür einen untrüglichen Beweis dar.

Mirjam Müller